Offener Brief vom 5.8.20 an alle Abgeordneten zum Nationalrat sowie zum NÖ Landtag

Offener Brief an alle Abgeordneten zum Nationalrat sowie zum NÖ Landtag

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete!

Die Sommerpause ist mittlerweile angebrochen und die einschlägigen Medien sind wieder einmal regelmäßig mit Veröffentlichungen bestückt, in denen „Primärversorgungseinheiten“ als Allheilmittel für die medizinische Basisversorgung und gegen den angeblich vorhandenen Ärztemangel gesehen werden. Als Hausarzt in Niederösterreich und Obmann einer Ärzteinitiative kann ich angesichts solcher Bekundungen immer wieder nur staunen.

Ich möchte im Folgenden meine Ansicht auch begründen:

Eine jüngst von unserer Initiative unter 160 Hausärztinnen und Hausärzten in Niederösterreich durchgeführte Umfrage zeigt eindeutig, wie die niedergelassene Ärzteschaft über Primärversorgungseinheiten denkt. Anbei ein Auszug:

  • Etwa ein Drittel der Befragten fühlt sich durch PVE in ihrer/seiner ärztlichen Tätigkeit benachteiligt.
  • Vier von fünf Befragten halten eine materielle Bevorzugung von PVE für kontraproduktiv.
  • Die Hälfte der Befragten ist der Ansicht, dass PVE die Existenz der niedergelassenen Einzel- und Gruppenpraxen gefährden.
  • Nur drei Prozent der Befragten sind der Ansicht, dass PVE dazu beitragen können, den Ärztemangel einzudämmen.
  • Nur acht Prozent sind der Ansicht, dass PVE einen Vorteil für die Patientinnen und Patienten bringen können.

Wie kommen denn die Befragten zu dieser Meinung? Sie sind ganz offensichtlich der Ansicht, dass mit „PVE der Ausprägung Niederösterreich“ künstliche Konstrukte geschaffen werden, die nur durch Bevorzugung gegenüber anderen Anbietern, Subventionierung und Abweichungen von dem für alle anderen Kassenärztinnen und Kassenärzten gültigen Kassenvertrag zu ihren Gunsten einigermaßen attraktiv für die Betreiber geführt werden können. Und damit gleichzeitig die Existenz der bestehenden echten Primärversorgung massiv gefährden.

Ist Ihnen schon einmal in den Sinn gekommen, dass gerade diese Art von Gesundheitspolitik der Sargnagel für die Allgemeinmedizin sein könnte? Würden Sie sich als Jungärztin/Jungarzt mit einem Kassenvertrag für Allgemeinmedizin niederlassen und mehrere hunderttausend Euro Schulden aufnehmen, wenn Sie das Gefühl hätten, dass Ihnen jederzeit so ein Zentrum vor die Nase gesetzt werden könnte? Ich jedenfalls nicht und ich schätze, dass das für den Großteil der bereits niedergelassenen Ärzteschaft auch schon zutrifft.

Ich erwarte mir daher von Ihnen, dass die Diskussion über die Zukunft des Gesundheitswesens seriös geführt wird. Dazu bedarf es endlich einer Aufbereitung und Evaluierung der bisherigen Erfahrungen mit den Primärversorgungseinheiten. Denn wir wissen bis heute leider noch nicht,

  • ob Primärversorgungseinheiten ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis in Bezug auf medizinische Leistungen aufweisen als Einzel- oder Gruppenpraxen.
  • ob Primärversorgungseinheiten überhaupt ihrer Leistungsverpflichtung gemäß Vereinbarung nachkommen.
  • ob durch Primärversorgungseinheiten eine spitalsentlastende Wirkung entfacht wird.
  • ob durch Primärversorgungseinheiten eine existenzgefährdende Benachteiligung von Einzel- und Gruppenpraxen erfolgt.

Zusammenfassung: Wir wissen nicht, ob Primärversorgungszentren aus gesundheitsökonomischer Sicht Sinn machen.

Ich ersuche Sie daher, Ihre politische Kraft dafür einzusetzen, dass Entscheidungen für die Zukunft des Gesundheitswesens wieder auf der Basis von Fakten, anstatt auf der Basis von politischer Willkür getroffen werden.

Ich erlaube mir an dieser Stelle noch eine Einschätzung, wie man den angeblich vorhandenen Ärztemangel beheben kann: Stellen Sie sicher, dass im gesamten Gesundheitssystem für gleiche medizinische Leistung das gleiche Honorar/Entgelt bezahlt wird und dass dieses Honorar/Entgelt zu einer Kostendeckung in denjenigen Organisationseinheiten führt, die am besten für die Erbringung der jeweiligen medizinischen Leistung geeignet sind. Stellen Sie sicher, dass es eine finanzielle Gesamtverantwortung für den Gesundheitsbereich gibt. Denn so lange es für die Krankenkassen von Vorteil ist, für bestimmte Projekte Subventionen aus anderen Finanzierungsbereichen zu bekommen – auch wenn die medizinischen Leistungen dann teurer und möglicherweise sogar schlechter werden – kann das System nicht funktionieren.

Wenn hier nicht gegengesteuert wird, ist die weitere Entwicklung aus meiner Sicht vorhersehbar: Die preiswerten Einzel- und Gruppenpraxen werden verschwinden, die Primärversorgung wird mehr und mehr zentralisiert. Und am Ende des Tages wird das System damit endgültig unfinanzierbar.

Mit freundlichen Grüßen,

Dr. Oliver Rückert

Arzt für Allgemeinmedizin

Obmann der Ärzteinitiative der Plattform Freiwilligkeit

Wiener Neustadt am 5.8.20