Offener Brief an Bundeskanzler Kurz und Gesundheitsminister Anschober, 21.3.20

Offener Brief an Bundeskanzler Sebastian Kurz und Gesundheitsminister Rudolf Anschober

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Kurz,

sehr geehrter Herr Gesundheitsminister Anschober!

Österreich verfügt über die weltweit beste Struktur an wohnortnahen medizinischen Versorgungsmöglichkeiten. Rund 4.000 Ordinationen für Allgemeinmedizin mit Kassenvertrag sind nach einem Stellenplan gleichmäßig und somit bestmöglich über das ganze Land verteilt. Jede von ihnen ist für die medizinische Basisversorgung von im Schnitt etwa 2.300 Menschen zuständig. Auch fachärztliche Ordinationen sind entsprechend ihrer jeweiligen Notwendigkeit ebenfalls flächendeckend ausreichend vorhanden und bestmöglich verteilt.

Diese niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, die sich neben ihrer medizinischen Berufung auch noch als Unternehmer betätigen, haben ihr privates Geld in diese Ordinationen investiert. Sie haben gebaut, sie haben umgebaut, sie haben ausgebaut. Sie haben medizinische Geräte und Einrichtung gekauft sowie Personal angestellt, für das sie als Arbeitgeber verantwortlich sind. Somit wird der ganzen Gesellschaft eine höchst leistungsfähige Struktur zur Verfügung gestellt, die den Staat zunächst einmal nichts kostet und deren Finanzierung unmöglich wäre, wenn sie der Staat allein aufstellen müsste.

Die finanzielle Abgeltung dieses Einsatzes erfolgt durch Bezahlung von Honoraren entsprechend der in den Bundesländern ausverhandelten und in den vergangenen Jahrzehnten ständig adaptierten Leistungs- und Honorarkataloge. Diese Verrechnungsmodalitäten sind so austariert, dass bei Normalbetrieb in einer Hausarztordination mit rund 15.000 Behandlungen (Patientenkontakten) pro Jahr einerseits die Bevölkerung ausreichend versorgt wird, andererseits der Betrieb so aufrecht erhalten werden kann, dass man die Mitarbeiter bezahlen kann, die Kredite tilgen kann und die betreibenden Ärztinnen und Ärzte von der hausärztlichen Tätigkeit leben und ihre Familien ernähren können.

Nur durch effizienteste Arbeit im Normalbetrieb ist es möglich, trotz der vergleichsweise niedrigen Honorierung der Leistungen in Summe ein ausreichendes Honorarvolumen erzielen zu können. In den bestehenden Leistungs- und Honorarkatalogen sind allerdings weder die Abdeckung von Vorhaltekapazitäten noch medizinische Krisenzeiten wie etwa die derzeit bestehende Situation abgebildet. Und das gestaltet sich für uns als enormes Problem.

Denn der Routinebetrieb in unseren Ordinationen wurde aufgrund der Bedrohung so gut wie möglich zurückgefahren und durch andere Tätigkeiten ersetzt. Patienten müssen informiert und bei Bedarf telefonisch betreut werden. Unaufschiebbare Patientinnen und Patienten werden behandelt. Zum Schutz derer, die doch in die Ordination kommen müssen, werden strengste Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Unsere niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen arbeiten also daher sicherlich nicht weniger als bisher. Sie arbeiten nur ganz anders. Genau so wie sich die Schwerpunkte der medizinischen Tätigkeit in den Spitälern geändert haben. Mit einem wesentlichen Unterschied: Spitalsärztinnen und -ärzte werden wie bisher entlohnt, und auch die anfallenden Betriebskosten werden nach wie vor abgedeckt. Diese Themen sind bei uns niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten jedoch völlig offen.

Eine Umfrage unter niederösterreichischen Hausärztinnen und Hausärzten hat ergeben, dass sich trotz voller Arbeitsleistung und zusätzlichem enormen Risiko Umsatzrückgänge von 30 bis 70 Prozent bereits in der ersten vollen Krisenwoche ergeben haben. Bei Fachärzten gestaltet sich das Problem ganz ähnlich, wobei es sogar Ordinationen gibt, die einen Umsatzrückgang von annähernd 100 Prozent aufweisen. Wie Sie ja wissen, entspricht der Umsatz aber nicht dem Einkommen. Denn die Betriebskosten laufen ja in unvermindertem Maß weiter. Man kann aufgrund der Kostenstruktur in einer durchschnittlichen Ordination für Allgemeinmedizin davon ausgehen, dass sich der Einkommensverlust prozentuell etwa doppelt so hoch einstellt wie der Umsatzverlust.

Das bedeutet, dass beispielsweise Jungärztinnen oder -ärzte, die vor kurzem die Ordination eröffnet haben, schon bei einem dauerhaften Umsatzrückgang von 10 Prozent in finanzielle Schwierigkeiten geraten. 30 Prozent Umsatzrückgang – was bei unserer Kontrollgruppe noch ein niedriger Wert ist – bedeutet einen Einkommensrückgang von 60 Prozent und daher in jedem Fall Schwierigkeiten, den Lebensunterhalt sowie die Kreditraten für die Ordination dauerhaft aufrecht zu erhalten. 50 Prozent Umsatzrückgang bedeutet ein Einkommen von null. 70 Prozent Umsatzrückgang bedeutet, dass der Ordinationsinhaber nicht nur kein Einkommen hat, sondern zusätzlich 40 Prozent seiner Betriebskosten über Kredit oder aus privaten Reserven finanzieren muss.

Selbstverständlich ist es jetzt nicht an der Zeit, Honorarverhandlungen zu führen. Aber diese Situation wird ganz schnell unsere wirtschaftliche Existenz gefährden. Und daher erwarte ich mir von der Bundesregierung eine Übergangslösung. Und zwar in Form einer raschen, klaren und verbindlichen Erklärung, dass sowohl die Infrastruktur unserer Ordinationen als auch unser Einkommen (so wie das im Spitalsbereich automatisch passiert) vom System weiterhin finanziert werden.

Dies kann im Bereich der Allgemeinmedizin ganz einfach durch die Fortschreibung der Honorarabrechnungen und -vorauszahlungen der einzelnen Ordinationen wie in den Vorquartalen geschehen, anstatt die Abrechnung nach dem bestehenden, aber für solche Krisenzeiten vollkommen ungeeigneten und vom Volumen her bei weitem nicht ausreichenden System einzufordern. Für Fachärztinnen und -ärzte, die während dieser Zeit ihrer üblichen Tätigkeit nicht oder nur eingeschränkt nachkommen können, gilt sinngemäß der gleiche Vorschlag.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, sehr geehrter Herr Gesundheitsminister! Alle Ärztinnen und Ärzte sind gewillt, Österreich in dieser schweren Krise nicht im Stich zu lassen. Bitte geben Sie uns auch ein deutliches Signal, dass Sie uns niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sowie unsere zigtausend Angestellten nicht im Stich lassen!

Hochachtungsvoll,

Dr. Oliver Rückert

Ärzteinitiative der Plattform Freiwilligkeit

Wiener Neustadt, am 21.3.2020

info@plattform-freiwilligkeit.at

 

Ergeht in Kopie an

die Abgeordneten zum Nationalrat

die Abgeordneten zum NÖ Landtag

die Präsidenten und Kurienobleute der NÖÄK und der ÖÄK

den Generaldirektor der ÖGK

den Presseverteiler der Ärzteinitiative der Plattform Freiwilligkeit

den Infomailverteiler der Ärzteinitiative der Plattform Freiwilligkeit

 

Offener Brief Kurz Anschober Plattform Freiwilligkeit 210320